Vamos a la Thaya! Sommerfrische 2020

Vom heimlichen Saint-Tropez des Nordens zum Sommerfrische-Ruhepunkt der Jetztzeit. Das kleine Städtchen Hardegg, eingebettet in den Green Canyon Österreichs, verzaubert früher wie heute mit seinem unvergleichlichen Charme und einer wohltuenden Portion Beschaulichkeit.

Text von Christine Sonvilla

Der Dachs spaziert durch die nächtlichen Straßen, der Uhu zieht sowieso regelmäßig seine Runden. Morgens und abends schaut auch der Schwarzstorch gerne vorbei, der Fischotter ist ebenfalls ein willkommener Gast und einmal – so wird es zumindest kolportiert – hätte sich sogar ein Waschbär blicken lassen. Ein verschwundener Vanillekipferlteig, der auf der Terrasse rastete, soll auf sein Konto gegangen sein. Hardegg, die kleinste Stadt Österreichs und die einzige Ortschaft im Nationalpark Thayatal, ist nicht nur ein Mekka für die heimische Tierwelt, sondern ein Plätzchen, wo es sich verweilen lässt. Und das nicht nur in Zeiten eingeschränkter Reisemöglichkeiten. Statt Safari in Kenia, Pyramiden in Ägypten oder Grand Canyon in den USA könnte es heuer Wildkatzenwanderweg, Perlmuttdrechslerei und Green Canyon heißen. Enge Flugzeugsitze, Hektik und Lärm des Alltags werden kurzerhand eingetauscht durch weite Wälder, Beschaulichkeit und die herrliche Leichtigkeit des Seins. Ein Sommer fast wie damals.

Das Saint-Tropez des Nordens
Einst war Hardegg nämlich beinahe so etwas wie das Saint-Tropez des Nordens. In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit tummelten sich die Sommerfrischler in dem kleinen Örtchen an der tschechischen Grenze in großen Zahlen. Allein in den 1930er Jahren waren es jährlich um die 30.000. Damit die vielen Wiener, Znaimer und Brünner Familien, die ihren Gastgebern oft über Jahrzehnte die Treue hielten, genug Platz hatten, zogen die Hardegger im Sommer sogar auf die Dachböden. Jedes Zimmer wurde gebraucht und gern genutzt, denn es wurde einiges geboten. Der österreichische Touristenklub baute Wanderwege aus und errichtete Promenaden, ein reges Vereinswesen sorgte für Unterhaltung und Abwechslung. Vorführungen von Theatergruppen, Zillen-Wettbwerbe und Bootsfahrten, Sängerfeste und Teekränzchen standen am Programm. Zwei Tennisplätze wurden gebaut und ein Klavier für die Gäste angeschafft. Zudem lud die Thaya mit sommerlich angenehmen 23 Grad Wassertemperatur zum Baden ein und auch an kulinarischen Genüssen sollte es nicht mangeln. Zwei Bäckereien, drei Gasthäuser, eine Konditorei, drei Kaufläden und zwei Fleischer kümmerten sich um das leibliche Wohl der Gäste.

Der Badespaß war vorbei als 1934 im Oberlauf der Thaya, im tschechischen Frain, ein Schwellkraftwerk errichtet wurde und die Sommer-Wassertemperatur auf 12 Grad senkte. Das war selbst den hartgesottensten Wasserratten zu frostig. Der Eiserne Vorhang gab schließlich der Sommeridylle den Rest. Ausflüge über die Thayabrücke nach Tschechien waren nicht mehr möglich, das Grenzgebiet verlor an Charme, die Sommerfrischler blieben zusehends aus.

Die Rückkehr der Sommerfrische
Heute blüht Hardegg wieder auf. Es gibt zwar keine Zillen-Wettbewerbe mehr, auf den Dachböden wohnen im Sommer die Fledermäuse und nicht mehr die Hardegger, es stehen 50 statt einst 500 Betten zur Auswahl und die Thaya ist noch immer zu kalt, um in ihr einzutauchen, dafür bietet das Hardegg der Neuzeit eine unwiderstehliche Mischung aus Ruhe, Natur und Kultur.
Alteingesessene sind überhaupt der Meinung, dass in der 80-Einwohner-Gemeinde die Uhren einfach anders ticken, langsamer und manchmal würden sie überhaupt aussetzen. Kein Wunder, denn wer von Österreichs kleinster Stadt ausgehend loswandert, taucht in eine Welt aus Flussschleifen und Umlaufbergen ein, voller steiler Felsen, bewaldeter Hügel und bunter Wiesen. Nicht von ungefähr kommt daher der Name „Green Canyon Österreichs“. Seit 20 Jahren wird das in Mitteleuropa einzigartige Tal an der Grenze, gebildet von der stetig dahinströmenden Thaya, durch einen Nationalpark geschützt. Seither darf sich die Natur wieder frei entfalten, der Mensch ist zum Beobachter geworden, Bäume dürfen alt werden, umfallen und als wichtiges Totholz liegen bleiben. Smaragdeidechsen, Wanderfalken, Hirschkäfer oder die heimlich lebende Wildkatze haben hier ein wichtiges Refugium gefunden. Und Städter gewinnen Abstand vom Alltag.
Sechs Wander- und zwei Radwege laden zu eigenen Entdeckungen ein, im Nationalparkzentrum – einen sprichwörtlichen Katzensprung von Hardegg entfernt – lassen sich die beiden Wildkatzen Frieda und Carlo, die unangefochtenen Lieblinge aller Besucher bei ihren Streifzügen durch die größte Wildkatzenanlage Österreichs beobachten. Ranger bieten Touren durch das Schutzgebiet an und während die Kleineren sich am Abenteuerspielplatz austoben, lassen sich die Größeren im Café einen süßen Waldviertler Mohnstrudel schmecken.

Ein wenig Kultur gefällig?
Wer genug Natur getankt hat, findet vielleicht Gefallen an einem Ausflug in die Weinstadt Retz oder möchte in Österreichs einziger und letzter Perlmuttdrechslerei dabei zusehen, wie kunstvolle Knöpfe aus Muscheln hergestellt werden. Schon seit 100 Jahren gibt es dieses alte Kunsthandwerk, das einst Muscheln aus der Thaya und March verarbeitete. Heute werden die natürlichen Rohstoffe für die schillernden Knöpfe etwa aus Mexiko oder Neuseeland bezogen.
Auch die Kulturinteressierten kommen auf ihre Kosten. Statt sich stundenlang im Louvre zu verlaufen, lässt sich im Kulturpunkt Hardegg, der kleinsten Galerie Österreichs oder im Guckkastenmuseum, das in der ehemaligen Volksschule untergebracht ist, der Kulturgenuss verträglich dosieren. Mittelalterfans wird die Burg Hardegg, die größte Burganlage Niederösterreichs verzaubern. In ihren alten Mauern beherbergt sie u. a. auch Kunstgegenstände der Maya, Inka und Azteken sowie eine bemerkenswerte Waffensammlung.
Und auch Grenzgänger werden sich freuen. Über die Thayabrücke spaziert oder radelt es sich heute wieder gemütlich nach Tschechien.

Das Beste aber von allem ist, es darf auch einfach mal nur Müßiggang oder neuzeitlich „Faulenzen“ am Urlaubsplan stehen. Vielleicht eine Schwimmrunde im Hardegger Waldbad drehen, eine Jause von der ortsansässigen Greißlerei einpacken oder einfach die angenehme Frische, die die Thaya auch im Hochsommer verströmt, aufsaugen. Selbst an heißen Sommertagen, wenn die Sonne andernorts ihre Gluthitze entfaltet, bleibt es an der Thaya und im umliegenden Wald durch die Verdunstung angenehm kühl. So wird selbst eine Wanderung zum markanten Umlaufberg, direkt entlang des Flusses, zu einer erfrischend sommerlichen Aktivität. Sommerfrische eben.